Thomas Engst

„Wo das Land abbricht“ von Anke Wogersien ist ein Roman ganz nach meinem Geschmack. Er spielt auf der Insel Rügen und befasst sich mit dem stetigen Konflikt von Naturschutz und Profitstreben. Eine Debatte, die ich selbst gut kenne. Fast jedes Jahre helfe ich auf der Insel bei botanischen Kartierungen und erlebe hautnah, wie ein sensibles und einzigartiges Ökosystem dem Tourismus geopfert wird.

Als mir der Mitteldeutsche Verlag ein Rezensionsexemplar anbot, war ich sofort Feuer und Flamme. Mir lag die gedruckte Ausgabe vor, welche bereits durch das Cover Aufmerksamkeit erhielt. Ich identifizierte mich sofort mit der Person im gelben Regenmantel, stand ich doch schon öfters am Strand von Rügen und blickte auf die Weite der Ostsee.
Worum geht es in dem Buch? Das möchte ich am besten mit der Zusammenfassung des Verlags wiedergeben, denn diese hat mich schließlich neugierig gemacht.

Als Anni Jahrzehnte nach ihrem Wegzug nach Rügen und damit auf die Insel ihrer Kindheit zurückkehrt, sieht sie sich dort mit großen Veränderungen konfrontiert: aus den kleinen beschaulichen Fischerorten sind Tourismus-Zentren geworden und die Natur leidet unter den Auswirkungen von Industrie und Massenkonsum, was sich besonders an den abbröckelnden Kreidefelsen bemerkbar macht. Als es dann zu einem tragischen Unfall an der Abbruchkante am Hochuferweg des Königsstuhls kommt, reicht es den Einheimischen. Der Unfall führt ihnen und auch Anni vor Augen, wie verletzlich die Menschen eigentlich sind und wie unbeherrschbar die Natur. Diese entfesselt ihre Kraft in einem heftigen Orkan, der die Insel und ihre Kreidefelsen erschüttert.

Nun habe ich die letzte Seite gelesen und ein paar Tage über das Buch „Wo das Land abbricht“ nachgedacht. So richtig glücklich bin ich damit nicht. Bereits beim Lesen wechselten die Gefühle von großem Lesespaß bis hin zu Frust, weil sich manche Passagen überaus bemüht und lang anfühlten.

Zu den großen Stärken des Romans gehört eindeutig die Kulisse der Handlung. Jeder, der sich auf Rügen und im Nationalpark Jasmund auskennt, findet sich zurecht und kann sich die Schauplätze bildlich vorstellen. Zur gelungenen und teilweise sehr dichten Atmosphäre gehören auch die gezielt eingesetzten Dialoge in Plattdeutsch, meinem Lieblingsdialekt.

Die Kreidefelsen der Insel sind Naturschatz und Reiseziel. Ein Dilemma mit Folgen für beide Seiten.

Diese haben mir so gefallen, dass ich sie laut gelesen und mir eingeprägt habe. Das passt wie Bernstein an den Ostseestrand. Um den Eingangs erwähnten Konflikt zwischen Naturschutz und Tourismus zu erklären, liefert das Buch Blicke hinter die Kulissen des Naturschutzes und der Tourismusbranche. So werden Probleme der Wasserversorgung erwähnt, wenn etwa 5.000.000 Urlauber versorgt werden müssen. Anderseits hat die Insel keinerlei wirtschaftliche Perspektiven, ausgenommen den Multiport Mukran und Feriengäste. Ein Trauerspiel, bei dem die Insel Rügen nicht alleine auf der Bühne der Abhängigen steht.
Globale Projekte wie die Neue Seidenstraße oder Nord Stream 2 finden ebenfalls Beachtung und werden als Hoffnung der Region gehandelt. Mit bedauerlichen Folgen für die Umwelt. Ebenfalls gelingt es Anke Wogersien, die Beziehungen der Charaktere zueinander geschickt zu verflechten und so eine Welt zu erschaffen, in der alle Akteure miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Als Bonus wartet am Ende der Geschichte eine informative Erklärung bzw. Beschreibung der Handlungskulisse. So werden auch diejenigen abgeholt, die bisher noch keinen Fuß auf die Insel Rügen gesetzt haben.

So viel zum Lesespaß.
In den weniger spaßigen Momenten, musste ich mich durch einzelne Passagen kämpfen. Durch die Story ziehen sich, angesichts der Vergangenheit von Rügen verständlich, sehr viele Memberberries der Ostalgie. Begriffe aus DDR-Zeiten werden für meinen Geschmack besonders zu Beginn zu oft und zu bemüht herangezogen. Ebenfalls wird (mal wieder) nur das Schlechte am Sozialismus gesehen. Klar, Mangelwirtschaft und Staatsdoktrin waren beileibe keine schönen Sachen aber dennoch gab es in der ehemaligen DDR glückliche Menschen.

Ebenfalls wirkt die Geschichte um Hauptperson Anni an manchen Stellen wirr und bemüht. Im Gedächtnis geblieben ist mir eine Szene in einer Leipziger Anwaltskanzlei, die auf mich dermaßen aufgesetzt gewirkt hat, dass mir diese Passage letztlich egal war. Erst später wird klar, dass es die erwähnte Passage brauchte, um eine Vierecksbeziehung zwischen Anni und drei Männern aufzubauen, die regelrecht konstruiert und (für mich) keine Relevanz besitzt. Eine Person wird fast schon übergriffig aber die Anni lässt es, trotz mehrerer Verneinungen, geschehen.
Wieso macht die Autorin so etwas? Nun ja, ich vermute, es ist der Versuch zumindest etwas Handlung du Spannung aufzubauen. Denn die Story braucht ewig, bis endlich mal etwas passiert. Knapp 50 Seiten vor Schluss beginnt die Story Fahrt aufzunehmen. Auch wieder sehr bemüht. So wird ein Unfall bei Tempo 30 aufgebauscht, als sei er bei deutlich höheren Geschwindigkeiten passiert. Irgendwie wirkt die Geschichte nicht aus einem Guss.

Ohne den Motor des Tourismus hat es die Ökonomie Rügens schwer.

Was sie aber wirkt ist eindrücklich. Immer dann, wenn Anke Wogersien von und über Rügen schreibt, die Geschehnisse auf die Insel an sich bezieht und von den durch einen Sturm entfesselten Naturgewalten schreibt, wird „Wo das Land abbricht“ zum Page-turner. Die Autorin geht mit dem Königsstuhl nicht gerade zimperlich um und beschreibt eindrucksvoll, welche kleinen Spielbälle wir Menschen in unserer Gier doch sind. Der Natur ist es egal, ob wir die Erde bevölkern oder nicht. In diesen Momenten flog ich durch die Seiten. Nur sind es zu wenig.

Am Ende bleibt ein Roman, der ein interessantes Thema über einen immer schwelenden Konflikt aufgreift. Natur oder Profit. Dabei müssen sich diese beiden Dinge nicht zwangsläufig ausschließen. Natur UND Profit ist der Weg in eine Zukunft für alle. Leider wird hier Potential verschenkt, in dem sich auf eine nahezu abstrakte Liebesbeziehung konzentriert und das eigentliche Thema nur oberflächlich behandelt wird. Aber alleine für die Einblicke in das „System“ Insel Rügen lohnt es sich, das Buch zu lesen.